Am 8.9. nahmen wir einen Tag, nachdem die Besetzung am Weberplatz geräumt wurde, an einer Wahlkampfveranstaltung von unserer Kandidatin „Niemand“ teil. In diesem Rahmen hielten wir eine Rede, die wir euch nicht vorenthalten wollen:
Liebe Mitbürgerinnen, am kommenden Sonntag finden in NRW Kommunalwahlen statt; wir sollen entscheiden, wer im Stadtrat sitzt und wer künftig das Rathaus regiert. Du hast die Macht, so lautet die Botschaft an uns, mit deiner Stimme kannst du über das Schicksal deiner Stadt mitentscheiden. Bei den letzten Kommunalwahlen 2014 war in Essen die niedrigste Wahlbeteiligung aller Zeit zu verzeichnen; gerade einmal 45% der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab, im sozialen Brennpunkt Altendorf sogar nur 29%. Es gibt offenbar immer weniger Menschen, die sich von der Teilnahme an Wahlen etwas erhoffen, insbesondere gilt dies für die ärmeren Schichten. Kein Wunder: Von der Macht, die wir, der „Souverän“, angeblich am Wahltag ausüben, ist an den 364 anderen Tagen des Jahres wenig zu spüren. In unserem von Arbeitsstress, Konkurrenz und Existenzsorgen bestimmten Alltag fühlen wir uns meist ziemlich machtlos. Woran liegt das? – Eine gängige Antwort lautet: Die Politikerinnen machen ihren Job nicht gut! Anstatt sich für uns einzusetzen und sich um die Sorgen und Nöte ihrer Wählerinnen zu kümmern, sind sie abgehoben und korrupt, wollen nur ihre Macht erhalten und ihre eigenen Taschen füllen. Die verbreitete Unzufriedenheit mit den etablierten Politik hat eine ganze Reihe von Protestparteien von links und rechts hervorgebracht: Grüne, Linkspartei, ProNRW, AfD, Piraten… Alle diese Parteien traten als „wahre“ Volksvertreterinnen an, die versprachen, endlich den Willen der Wählerinnen ernst zu nehmen. Aber kaum waren diese Parteien in die Parlamente oder Regierungen eingetreten, begannen sie schnell, den Etablierten ziemlich ähnlich zu sehen. Teils erwiesen sie sich sogar, wie im Fall der rechten Opposition, sich als Vorboten von Schlimmerem. Jedenfalls hat keine dieser Protestparteien etwas Grundsätzliches am Verhältnis von Regierenden und Regierten geändert. Es muss daher tiefer liegende Gründe dafür geben, dass unsere Interessen in der Politik nicht berücksichtigt werden. Dafür müssen wir uns die Gesellschaft genauer ansehen, die von dieser Politik regiert und verwaltet wird: Wir haben es mit einer Gesellschaft zu tun, die von unversöhnlichen Widersprüchen zerrissen wird: Eigentümerinnen wollen ihre Immobilien gern so teuer wie möglich vermieten, während Mieterinnen am liebsten umsonst wohnen würden. Unternehmerinnen möchten ihre Angestellten ausquetschen bis zum geht nicht mehr, während die Lohnabhängigen natürlich gern möglichst viel Geld für möglichst wenig Arbeit bekommen würden.
Wie soll die Politik bei derart gegensätzlichen Interessenlagen die Interessen „der Bevölkerung“ als Ganzer vertreten? Das ist ein Ding der Unmöglichkeit! Auch wenn diese Begriffe ein wenig aus der Mode gekommen sind: Es handelt sich nach wie vor um eine Klassengesellschaft, die sich in Besitzende und Besitzlose teilt.
Damit eine solch widersprüchliche Gesellschaft überhaupt existieren kann, braucht sie den Staat als übergeordnete Instanz, der dafür sorgt, dass die Konkurrenz nicht in ein ungezügeltes Hauen und Stechen ausartet und dass die Rahmenbedingungen der bestehenden Ordnung aufrecht erhalten werden. Zu diesen Rahmenbedingungen gehört auch, dass der Staat durch bestimmte Gesetze dafür sorgt, dass die Masse der Arbeitenden zumindest nicht verhungert oder sich zu Tode schuftet – aber selbst das musste ihm durch harte Kämpfe abgerungen werden. Insbesondere gehört zu diesen Rahmenbedingungen aber das heilige Eigentum: Das leerstehende Gebäude, das wir hier gegenüber auf der anderen Seite des Weberplatzes sehen, wurde gestern von Aktivistinnen besetzt, die es in ein antirassistisches Zentrum verwandeln wollten. Die Polizei hat sie umgehend rausgeschmissen. Das Gebäude ist nun wieder leer, und die Menschen, die etwas Sinnvolles damit anstellen wollten, wurden abgeführt. Das ist bürgerliches Eigentum! So stellt die Staatsgewalt sicher, dass alles weiter seinen Gang geht und die Unternehmen weiter ihren Profit machen können. Politikerinnen machen ihren Job also nicht schlecht, sondern gut, wenn sie nicht unmittelbar unsere Interessen bedienen. Die Machtlosigkeit, die wir im Alltag spüren, entspricht der Macht, die am anderen Pol der Gesellschaft konzentriert ist – bei denen, die unsere Arbeit kontrollieren.
Aber könnte die Politik dies nicht ändern, wenn nur einmal eine Partei an die Macht kommt, die sich nicht auf die Seite der Besitzenden stellt, sondern die breite Masse der Bevölkerung unterstützt? Dies ist seit jeher das Versprechen der Linken. – Wir sollten uns davon jedoch nicht viel erhoffen: Bekanntlich ist die Essener Stadtkasse wie die jeder anderen Kommune auf Steuergelder angewiesen, die ihr die hier ansässigen Unternehmen bescheren. Und weil diese jederzeit damit drohen können, an einen anderen Standort auszuweichen, kann es sich keine Stadtregierung – egal ob links oder rechts – leisten, ThyssenKrupp oder RWE gegen sich aufzubringen.
Wenn aber die Politik an unserer Machtlosigkeit nichts ändern kann, wer dann? – Niemand anderes als wir selbst: Wer hat all die Häuser erbaut, die wir hier rund um uns sehen? Wer sorgt tagtäglich dafür, dass diese Stadt funktioniert? Wer fährt die Busse, wer bringt den Müll weg? Wer pflegt die Alten und Kranken, die vor 20, 30 Jahren den Laden hier am am Laufen hielten? Wer kümmert sich um die Kinder, die dies in Zukunft tun werden? – Niemand anderes als wir selbst, die einfachen Menschen, die arbeitende Bevölkerung. Wenn wir es sind, durch deren Arbeit diese Stadt funktioniert, haben wir potentiell eine riesige Macht. Dies müssen wir uns bewusst machen.
Um unsere Machtlosigkeit zu überwinden und diese potentielle Macht in wirkliche Gegenmacht von unten zu verwandeln, müssen wir aus unserer Vereinzelung herauskommen. Wir müssen uns organisieren:
Zum Beispiel so wie die mutigen Menschen, die hier auf diesem Platz versucht haben, sich Räume für ein soziales Zentrum zu nehmen, anstatt es sich von der Politik zu erbetteln.
Oder wie die Initiative „Gerechtigkeit für Adel“, die sich für die Aufklärung im Fall eines jungen Mannes einsetzt, der vor einem Jahr in Essen-Altendorf unter zweifelhaften Umständen von der Polizei erschossen wurde. Die dazu aufruft, Fälle von Polizeigewalt öffentlich zu machen und zu dokumentieren und selbst für Gerechtigkeit zu kämpfen, anstatt sich diese von staatlichen Autoritäten zu erhoffen.
Oder wie das Bündnis „Ende Gelände“, das durch zivilen Ungehorsam den klimaschädlichen Braunkohleabbau jetzt beenden will, anstatt darauf zu warten, dass die grüne Partei das vielleicht in 20 Jahren tut.
Wir sollten also nicht auf die Wahlen hoffen, sondern uns auf unsere eigene Kraft besinnen und uns selbst für unsere Interessen einsetzen. Nur so können wir eine Stadt und eine Gesellschaft aufbauen, in der wir wirklich und nicht nur zum Schein unsere Geschicke selbst bestimmen können.
Zuletzt möchte ich noch einmal an die Menschen erinnern, die wegen der Räumung des besetzten Hauses immer noch im Polizeigewahrsam sind: Ich wünsche ihnen viel Kraft und hoffe, dass sie bald wieder rauskommen.
Zeigen wir uns solidarisch: Wir sind nicht alle, es fehlen die Gefangenen!