Gedanken zur Bundestagswahl 2025

Krisen überall – und wir sollen ein Kreuzchen machen und hoffen?

In Deutschland herrscht Krisenstimmung: Niedergang der Autoindustrie, Verspätungsrekord bei der Bahn1, Kitas, Schulen und Krankenhäuser am Limit, marode Infrastruktur wie die kürzlich zusammengebrochene Elbbrücke in Dresden – so könnte man ewig weitermachen. Ausdruck der Krise ist auch, dass aktuell – früher als gedacht – Wahlkampf herrscht. Viele Menschen bemerken konkrete Verschlechterungen in ihrem Leben und hoffen, dass Neuwahlen einen Ausweg aus der Krise bringen können. Das zeigt sich auch an den Themen, die die Menschen laut Umfragen aktuell am meisten beschäftigen: 2

1. Die Wirtschaftslage
2. Migration und Flucht
3. Energie und Klima
4. Der Ukraine-Krieg

Dabei nehmen der Wahlkampf und die dort getätigten Versprechen eine seltsame Rolle in unserer Demokratie ein. 81,7% halten es für das größte Problem der Demokratie, dass zentrale Wahlversprechen oft nicht umgesetzt würden.3 Dennoch sind sich die meisten einig, am 23.02. muss gewählt werden. Trotz allen Zweifeln an der Möglichkeit, durch Wahlen etwas zum Positiven zu verändern, wird weiter an dieser Option festgehalten, weil andere politische Perspektiven aktuell kaum präsent sind. Es lohnt sich daher, die vier Themen, die den Menschen am wichtigsten sind, und die dazugehörigen Lösungsvorschläge der Politik genauer anzuschauen. Und ebenso, welche alternativen Handlungsmöglichkeiten es geben könnte.

Wirtschaftslage

Alle sind sich einig: Die Wirtschaft in Deutschland ist in der Krise. Dies bedeutet für lohnabhängige Menschen: Sorgen um den Arbeitsplatz und die (Real-)Löhne sowie allgemein die Zukunft. Der Einkauf der alltäglichen Lebensmittel wird immer teurer und schluckt immer mehr Anteil am Gehalt, ebenso die Miete, Heizkosten oder das Tanken für die Fahrt zur Arbeit. So macht sich die Krise bei uns bemerkbar.

Doch was heißt denn eigentlich Krise in dieser Gesellschaft? Krise herrscht, wenn es, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), nicht genug Wachstum gibt. So stieg das BIP in diesem Jahr zum Beispiel „nur“ um 0,1% im 3. Quartal im Vergleich zum Vorquartal.4 Dies erkennen sämtliche Parteien als Problem und leiten aus dem fehlenden Wachstum die schlechte Lage vieler Menschen ab. Es wird darum gestritten, wie wieder ein stärkeres Wachstum erreicht werden kann: Manche schlagen Investitionsförderungen und Steuersenkungen vor oder wollen das Bürgergeld absenken und die Lohnfortzahlung für die ersten Krankheitstage streichen. Andere wollen den Mindestlohn erhöhen, um die Binnennachfrage anzukurbeln. Das Ziel, Wachstum zu erreichen, teilen somit sämtliche Parteien.

Doch was ist dieses BIP, das alle wieder wachsen sehen wollen? Das BIP meint die in Werten ausgedrückte Summe der in einer Volkswirtschaft produzierten ökonomischen Güter (Waren und Dienstleistungen).5 Kurz, da wird alles zusammenaddiert, wodurch Geld verdient wird in diesem Land.6 Das BIP sagt aber nichts darüber aus, ob es genug gibt von den Dingen, die wir in unserem Alltag brauchen – wie z.B. Nahrungsmittel, Wohnen, Konsum, etc. Das BIP kann z.B. auch wachsen, weil wegen eines Krieges die Militärausgaben steigen, oder weil nach einer Naturkatastrophe viel Arbeitskraft für den Wiederaufbau aufgewendet werden muss. Umgekehrt bedeutet Rezession nicht, dass plötzlich die Fähigkeit der Bevölkerung, nützliche Dinge zu produzieren, gesunken ist. Vielmehr gibt es Schwierigkeiten bei der profitablen Verwertung der Waren auf dem Weltmarkt. Dies kann unterschiedliche Gründe haben, z.B. dass die Konkurrenz günstiger ist, oder schlicht die Nachfrage nach bestimmten Produkten sinkt. Es leuchtet erst einmal nicht unmittelbar ein, warum sich das auf unseren Alltag auswirken soll. Ebenso, wenn im Finanzsektor weniger „Wert geschöpft“ wird7 oder Aktienpakete weniger Rendite abwerfen. All diese Fälle haben jedoch eins gemeinsam: Das BIP wächst weniger stark. Und das betrifft uns: Es drohen Firmenpleiten, Arbeitslosigkeit etc. Die meisten von uns bemerken in ihrem Alltag also nur zu gut, dass Krise herrscht. Denn der Reichtum dieser Gesellschaft wird daran gemessen, wie viel Geld insgesamt verdient wird und nicht, wie viel von nützlichen Dingen für unser Leben vorhanden ist. Läuft das Geldverdienen für die Unternehmen schlechter, „haftet“ dafür der lohnabhängige Teil der Bevölkerung durch die erschwerten Lebensbedingungen.

Durch die Lösungsvorschläge der Parteien wird unterstellt, dass es uns allen gut geht, wenn es nur “der Wirtschaft” gut geht. Aber auch in den Jahren, als es in Deutschland wirtschaftlich bergauf ging, wurde der wirtschaftliche Erfolg der Nation auf harten Grundlagen erkauft: einem der größten Niedriglohnsektoren in Europa,8 dem auch nach offizieller Definition drohenden Armutsrisiko (offiziell aktuell 16,6% betreffend)9, Arbeit, die schon in „normaler“ Vollzeit10 krank macht,11 drohendem Burnout12 und nochmal deutlich größeren Gesundheitsrisiken bei Jobs mit Schichtbetrieb.13

Unbeeindruckt davon, was die Arbeit mit den Menschen anrichtet, sind sich die (meisten) Politiker:innen – von Habeck14 zu Merz15 – zumindest in einem Punkt einig, was Deutschland für ein neues, stärkeres Wirtschaftswachstum braucht: Es muss wieder mehr gearbeitet werden. Auch den Parteien ist also klar, dass die Arbeit die Grundlage des Reichtums dieser Gesellschaft ist. Das führt zu dem verrückten Widerspruch, dass die Produktivität je Erwerbstätigen seit Ewigkeiten steigt, das Arbeitsvolumen der Gesamtbevölkerung ebenso,16 die erforderliche Arbeit aber dennoch nicht weniger wird, sondern es noch mehr davon brauchen soll.17 Grund dafür kann aber nicht sein, dass es von den Dingen, die wir so brauchen, zu wenig gibt. Stattdessen handelt es sich um eine Krise der Profitmaximierung des Kapitals (= es wächst zu wenig). Dies erklärt auch, warum in der Krise auch immer Arbeitsplätze „abgebaut“ werden. Arbeit findet nur statt, wenn sie für die Unternehmen „rentabel“ ist. Denn für die Unternehmen ist die Arbeit immer noch in erster Linie ein Kostenfaktor in der Bilanz, den es zugunsten und im Verhältnis zum Profit zu senken gilt. Es muss gearbeitet werden, weil es den Wert für die Unternehmen schafft. Keine Rolle spielt dagegen, was gebraucht wird in der Gesellschaft. Somit besteht ein zentraler Widerspruch zwischen den Interessen “der Wirtschaft” und den angestellten “Erwerbstätigen”. Oder auf den Punkt: „Du und dein Boss ham nix gemeinsam bis auf das Deutschlandtrikot.“ Diesen Widerspruch loszuwerden, steht am 23. Februar nicht auf dem Wahlzettel.

Wir sollten jedoch nicht akzeptieren, dass wir für die Krise und eine gesteigerte Profitrate der Unternehmen in Haftung genommen werden. Trotz zurückgehender Verkaufszahlen macht z.B. VW nach wie vor Milliardengewinne, drohte aber vor Weihnachten dennoch mit Werksschließungen und verlangte von den Beschäftigten unter anderem 10% Lohnkürzungen. Die IG Metall ging gemäß ihrem “sozialpartnerschaftlichen” Selbstverständnis auf die Erpressung ein und stimmten einem Verzicht auf Lohnerhöhungen bis 2030 sowie dem Abbau von 35.000 Stellen zu, um die Schließung von Fabriken abzuwenden.18 Kapital und Arbeit sind aber keine “Partner”, sondern unversöhnliche Gegner! Lassen wir uns nicht erpressen, organisieren wir uns und nutzen unsere kollektive Macht, um für unsere Interessen zu kämpfen.

Migration und Flucht

20 Jahre neoliberale Sparpolitik haben Infrastruktur und öffentliche Einrichtungen hierzulande heruntergewirtschaftet. Eine aktuelle Studie beziffert den Bedarf an Investitionen für Instandhaltung und Ausbau von Verkehrsnetzen, städtischen Gebäuden, Bildungseinrichtungen und Wohnungsbau auf 600 Milliarden Euro.19 Hinter dieser abstrakten Zahl verbergen sich konkrete Verschlechterungen, die wir alle im Alltag zu spüren bekommen: mangelnde Kitaplätze, unbezahlbare Mieten, ausgefallene Züge, überfüllte Busse, marode Schulgebäude, geschlossene Schwimmbäder…

Zugleich ist in den letzten Jahren die Zahl der Menschen, die vor Kriegen und Armut flüchten müssen und in Europa Schutz suchen, erneut stark gestiegen. Allein im Jahr 2022 – dem Beginn des Ukrainekriegs – kamen 1,5 Millionen Menschen zusätzlich nach Deutschland.20 Es ist wenig verwunderlich, dass dadurch die ohnehin vorhandenen Engpässe in der öffentlichen Versorgung in vielen Kommunen zusätzlich verschärft werden.21 Teile der einheimischen Bevölkerung ziehen daraus den verkehrten Schluss, für die Misere nicht die jahrzehntelange Sparpolitik des Staates, sondern die neu angekommenen Geflüchteten verantwortlich zu machen. Sie treten nach unten und üben sich in rassistischer Besitzstandswahrung, getreu dem Motto: Wenn schon nicht genug für alle da ist, dann sollen gefälligst zuerst die und nicht wir verzichten! Eine bestimmte Gruppe von Konkurrent:innen wird für nicht berechtigt erklärt, das Prinzip, dass um grundlegende Güter wie Wohnraum und öffentliche Dienstleistungen überhaupt konkurriert werden muss, wird nicht in Frage gestellt.

Fast alle Parteien reagieren auf diese Situation mit einem restriktiveren Kurs in der Migrationspolitik, wobei sie von den Mainstream-Medien eifrig unterstützt werden. Nachdem Kanzler Scholz bereits im Oktober 2023 gefordert hatte: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“22, beschloss die Ampelkoalition im Januar 2024 ein „Rückführungsverbesserungsgesetz“, welches die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber:innen erleichtern soll.23 Der Opposition geht das noch nicht weit genug, CDU, AfD und BSW fordern unter anderem Leistungskürzungen von abgelehnten Asylbewerber:innen, keine Einreise für Geflüchtete aus sicheren Drittstaaten und Asylverfahren außerhalb der EU.24

Daneben möchten aber die meisten Parteien verstärkt ausländische Fachkräfte anwerben, da deutsche Unternehmen in vielen Bereichen unter Personalmangel leiden. „Einwanderung in den Arbeitsmarkt statt in die sozialen Sicherungssysteme“, fordert die FDP in ihrem Wahlprogramm.25 In anderen Worten: Wer die Profite des Kapitals vermehrt, ist willkommen, überflüssige Arme sollen draußen bleiben. In diesem Nützlichkeitsrassismus ist sich die bürgerliche Mitte mit der populistischen Rechten einig: Donald Trump hat es Elon Musk kürzlich zugestanden, dass die Tech-Industrie auch weiterhin ausländische IT-Spezialist:innen anwerben darf und Alice Weidel wird es im Zweifelsfall ähnlich halten.26

Was ebenfalls alle Parteien eint, ist die Anrufung des nationalen „Wir“: Was auch immer sie an migrationspolitischen Maßnahmen vorschlagen, es geht dabei stets um das Wohl „unseres“ Landes. Diese Rhetorik dient der Verschleierung der Klassengegensätze: Die Lohnabhängigen sollen sich mit den Interessen des deutschen Kapitals identifizieren und im Zweifelsfall zugunsten des Standorts Deutschland ihren Gürtel enger schnallen. Dies soll uns unter anderem dadurch schmackhaft gemacht werden, dass die Staatsangehörigkeit mit gewissen Privilegien verbunden ist, es also nicht-deutschen Angehörigen der arbeitenden Klasse noch schlechter geht.

Diese nationalistische Logik der Spaltung gilt es zu überwinden. An die Stelle des nationalen „Wir“ setzen wir ein proletarisches und internationalistisches „Wir“. Die Frage ist nicht: Welche Fachkräfte braucht die deutsche Wirtschaft? Oder: Wie viel Migration verträgt unser Land? Sondern: Wie können wir, einheimische und migrantische Lohnabhängige gemeinsam, uns für unsere Interessen einsetzen? Wenn es zu wenig bezahlbare Wohnungen und zu wenig Kitaplätze gibt, müssen wir zusammen darum kämpfen, dass sich das ändert. Wenn die Mächtigen dafür kein Geld locker machen wollen, müssen wir sie zwingen, es zum Beispiel aus dem Wehretat zu nehmen.

Ein solcher Kampf für ein besseres Leben kann aber nicht an den Landesgrenzen stehen bleiben. Die Lohnabhängigen verschiedener Länder müssen ihre Kämpfe verbinden und sich gegenseitig unterstützen. Die häufig erhobene Forderung, „Fluchtursachen zu bekämpfen“ kann letztlich nur durch eine Überwindung des weltweiten kapitalistischen Systems verwirklicht werden, das durch seine Ausbeutung, Naturzerstörung und Kriege unzählige Menschen zwingt, ihre Heimat zu verlassen. Eine solche Perspektive findet sich aber auf keinem Wahlzettel!

Energie und Klima

Mittlerweile hat sich auch in den Führungsetagen der Konzerne die Erkenntnis durchgesetzt, dass etwas gegen den Klimawandel getan werden muss – nicht weil dieser den Planeten ruiniert, sondern weil er die Profite gefährdet. Das Weltwirtschaftsforum kommt in einer Studie zu dem Schluss, dass „mehr als die Hälfte des weltweiten Bruttoinlandsprodukts – 44 Billionen Dollar Wirtschaftswert – mäßig oder stark den Risiken von Naturschäden ausgesetzt“27 sei.

Die Bundesregierung und viele andere Staaten fördern daher den Ausbau von erneuerbaren Energien und andere Klimaschutzmaßnahmen. Bezahlen muss den dafür nötigen Umbau der Wirtschaft aber nicht etwa das 1% der Superreichen, die mit ihren Privatjets und Luxusyachten mehr als doppelt so viel CO2 verursachen als die ärmeren 50 % der Menschheit zusammen.28 Bezahlen muss vielmehr die breite Masse der Bevölkerung in Form stetig steigender CO2-Abgaben, die das Heizen und Tanken verteuern. Die unteren Einkommensschichten sind davon besonders betroffen, weil sie einen viel größeren Anteil ihres Einkommens für Energiekosten aufwenden müssen als die Reichen.29

Die Tatsache, dass die Energiewende in ihrer bisherigen Form sozial ungerecht ist, hat bei Teilen der Bevölkerung fatalerweise den Eindruck erweckt, dass Klimaschutz generell ein unsoziales Elitenprojekt sei – und nicht nur, wenn er unter kapitalistischen Bedingungen stattfindet. Diese Sichtweise wird von der Propaganda der AfD aufgegriffen und verstärkt. In ihrem Programmentwurf zur Bundestagswahl erklärt sie den menschengemachten Klimawandel zu einem erfundenen Problem und lehnt jegliche Klimapolitik ab.30

Leider ist der Klimawandel aber ein sehr reales Problem, das zudem die ärmeren Länder am härtesten trifft. Folgen der Erderwärmung wie Dürren, Überschwemmungen, extreme Hitze und der Anstieg des Meeresspiegels zwingen bereits heute 20 Millionen Menschen jährlich zur Flucht, die meisten davon im Globalen Süden. Laut Schätzungen der Weltbank könnte es im Jahr 2050 weltweit 140 Millionen Klimaflüchtlinge geben.31

Die derzeitige Klimapolitik setzt auf technische Lösungen: Strom aus Wind- und Solarenergie statt Kohle und Gas, E-Autos statt Verbrenner. Die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse sollen sich dagegen nicht grundlegend ändern. Es wird das Ziel des „grünen Wachstums“ ausgegeben – die Unternehmen sollen weiterhin ihre Profite steigern, aber trotzdem in den nächsten 25 Jahren ihre CO2-Emissionen auf null reduzieren. Es ist aber schwer vorstellbar, dass das klappen wird! Am Elektroauto, dem Vorzeigeprodukt des „grünen“ Kapitalismus, lässt sich das gut zeigen: Die Förderung des für die Batterien benötigten Lithiums in Lateinamerika führt zu massiven Umweltschäden und zerstört die Lebensgrundlage der in den Abbaugebieten ansässigen indigenen Bevölkerung.32 Zudem wird bei der Herstellung dieser Batterien so viel CO2 freigesetzt, dass die Autos je nach Modell erst einmal 40.000 bis 200.000 Kilometer fahren müssen, bis sie klimafreundlicher sind als ein Verbrenner. Aber selbst dann ist es immer noch eine enorme Energieverschwendung, ein bis zwei Tonnen Blech durch die Gegend zu bewegen, um im Durchschnitt nur 1,3 Personen zu befördern.33 Ökologisch betrachtet ist das E-Auto eine Sackgasse. Sinnvoll wäre vielmehr, konsequent auf öffentliche Verkehrsmittel zu setzen – aber dem stehen die Profitinteressen der Automobilindustrie entgegen.

Die Lösung ist weder das „grüne Wachstum“ der etablierten Parteien noch die Leugnung der Klimakrise durch die AfD, sondern eine Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Erst wenn nicht mehr die Anhäufung von Kapital, sondern die Bedürfnisse der Menschen den Zweck der Produktion ausmachen, wäre ein harmonischeres Verhältnis der Menschheit zur Natur möglich. Diese Option steht aber am 23. Februar nicht zur Wahl. Wir müssen sie durch eine ökologische Massenbewegung von unten erkämpfen!

Der Krieg in der Ukraine

Die aktuelle Lage in der Ukraine: Es wird geschätzt, dass es mittlerweile mehr als eine Million tote und verletzte Soldaten auf russischer und ukrainischer Seite gibt,34 zivile Opfer noch gar nicht mit eingerechnet. Ein Ende ist nicht in Sicht. In der Ukraine möchten nur noch 38% der Menschen, dass der Krieg fortgeführt wird.35 Brutale Zwangsrekrutierungen von den Straßen sind an der Tagesordnung.36 Teils desertieren ganze „Elite-Brigaden“,37 seit Kriegsausbruch sind fast 120.000 Fälle von Fahnenflucht registriert. Nach offiziellen Angaben von Selenskyj stehen in der ukrainischen Armee aktuell 980.000 Soldaten unter Waffen, zugleich sind nach Schätzungen bereits rund 1,2 Millionen wehrpflichtige Menschen aus der Ukraine geflohen.38 Experten prowestlicher Militär-Thinktanks müssen zugestehen, dass die ukrainische Kriegslage sich stetig verschlechtert. Das russische Militär hat sich an westliche Waffen angepasst, neue Strategien entwickelt, und deren Mobilisierungsfähigkeit ist bei Weitem noch nicht erschöpft.39 In Deutschland spüren die Menschen den Krieg vor allem indirekt: Höhere Energiepreise, Sorgen vor einer weiteren Eskalation und Forderungen nach mehr Aufrüstung.

Die etablierten Parteien fordern weiterhin eine Unterstützung der Ukraine in Form weiterer Waffenlieferungen. Sie argumentieren unter anderem mit einer vermeintlichen moralischen Verpflichtung zur Unterstützung, weil die Ukrainer:innen entschieden hätten, dass sie für ihr Land kämpfen wollen. Dabei ignorieren sie die realen Zustimmungswerte in der Ukraine, die erforderlichen Zwangsrekrutierungen sowie massenhafte Flucht und Desertationen. Bereits zu Beginn stellte die vermeintliche moralische Integrität der ukrainischen Seite nicht den Grund der Unterstützung dar. Der lag vielmehr darin, dass Russland als weltpolitischer Störfaktor wahrgenommen und deren Eskalation in der Ukraine als willkommene Gelegenheit zur Schwächung des Kontrahenten angesehen wurde. Doch aus der erfolgten Unterstützung ergibt sich mittlerweile ein weiterer Grund: Alleine bis Oktober dieses Jahres wurden Kredite als „Hilfen“ in Höhe von 113 Mrd. Euro geleistet. Gewinnt Russland diesen Krieg, droht deren Verlust als mögliche Konsequenz.

Daher ist ein Ende des Krieges noch lange nicht angedacht. So der Leiter des ZDF-Studios in Washington im Bezug auf Trump: “Die gute Nachricht ist, es wird nicht am ersten Tag schon der Frieden ausbrechen in dieser Region”.40 Im Gegenteil: Junge Ukrainer:innen sollen jetzt schon ab 18 Jahren an die Front geschickt und dort verheizt werden, wenn es etwa nach den den USA geht.41 Selenskyj macht deutlich, dass seine Regierung hierzu allenfalls unter der Bedingung von mehr Waffenlieferungen bereit sein wird.42 Ergänzend wird darüber nachgedacht, beispielsweise nach Deutschland geflohene, wehrfähige Menschen in die Ukraine – an die Front – abzuschieben. Die müssen dann wohl ausbaden, dass die Ukrainer:innen angeblich kämpfen wollen.

Zugleich soll aufgerüstet werden, und zwar für die Sicherheit. Dass dies daran nichts ändert, dass es gegensätzliche Interessen zwischen „dem Westen“ und Russland gibt, ist klar. Es soll einfach nur sichergestellt werden, dass die andere Seite keine realistische Möglichkeit mehr sieht, ihre Ansprüche durchzusetzen. Dass das die Gefahr eines Krieges nicht senkt, ist allen klar. Daher müssen wir ja auch „kriegstüchtig“ werden. Habeck, der Kanzlerkandidat der ehemaligen “Friedenspartei” fordert 3,5% des BIP an Militärausgaben,43 Weidel kann sich sogar noch mehr als die von Trump geforderten 5% vorstellen.44

Es gibt auch Parteien (BSW, AfD), die eine weitere Unterstützung der Ukraine ablehnen. Begründet wird dies jedoch nicht damit, dass gegen die Gründe für diesen Krieg vorgegangen werden soll. Es wird nicht in Frage gestellt, dass es sich gegenseitig ausschließende Ansprüche verschiedener Nationen gibt und diese ggf. auch militärisch durchgesetzt werden. An der imperialistischen Logik will keine dieser Parteien etwas ändern. Sie sind jedoch der Meinung, dass es sich in diesem Fall um einen amerikanischen Krieg handelt, der deutschen Interessen schadet. Daher ist es auch kein Widerspruch, dass die AfD die Unterstützung der Ukraine ablehnt, aber dennoch die Aufrüstung vorantreiben will. Sie sind für Krieg, aber bitte nur, wenn er sich für Deutschland lohnt.

Offiziell noch auf Abrüstungskurs ist das BSW. Zugleich möchte die Wagenknecht-Partei, dass sich Deutschland von den USA abwendet und Europa sich als eigenständiger kapitalistischer Machtblock etabliert. Dann wird sich Europa aber nicht mehr auf den Schutz Amerikas verlassen können und muss die eigene militärische Stärke ausbauen. Spätestens, wenn es einmal in der Regierungsverantwortung ist, wird das auch das BSW zugestehen müssen.

Es bleibt festzuhalten: Sicherheit wird nicht durch mehr Aufrüstung erreicht. Stattdessen gilt es, sich der Kriegslogik durch eine internationale Friedensbewegung entgegenzustellen. Wir haben mit dem Pfleger in Russland oder der Arbeiterin in Kiew mehr gemeinsam als mit Putin, Scholz oder Selenskyj. Denn wir müssen deren Politik am Ende in den Schützengräben dieser Welt ausbaden.

Selbstorganisation statt Wahlspektakel

Die Parteien können keines der drängenden Probleme lösen, die die Menschen beschäftigen. Kein Wunder: Sie konkurrieren alle um die Führung eines Gemeinwesens, das auf der Ausbeutung unserer Arbeitskraft beruht und dessen Zweck nicht die Befriedigung unserer Bedürfnisse ist, sondern die Anhäufung von Kapital.

Wenn sich die Lage bessern soll, müssen wir selbst aktiv werden! Wir, die lohnabhängige Klasse, sind es, die durch unsere Arbeit tagtäglich dieses System am Laufen halten. Dadurch haben wir aber potentiell eine ungeheure Macht: Alle Räder stehen still, wenn unser starker Arm es will! Wenn wir uns weigern, so zu funktionieren, wie es die Mächtigen von uns erwarten, können wir ihnen Zugeständnisse abtrotzen. Aber dazu müssen wir uns organisieren und gemeinsam für unsere Interessen kämpfen.

Eine solche Perspektive erscheint vielen utopisch, da es hierzulande aktuell wenig entschlossene Klassenkämpfe gibt und stattdessen Vereinzelung vorherrscht. Aber das muss nicht so bleiben! Nachbarschaftstreffen, Mieter:inneninitiativen, Versammlungen im Betrieb, Proteste gegen lokale Missstände können Gelegenheiten bieten, miteinander ins Gespräch zu kommen und Solidaritäten zu knüpfen. Wenn wir die einzelnen Kämpfe miteinander verbinden, können wir Gegenmacht von unten aufbauen und die Macht von Kapital und Staat herausfordern.

In den kommenden Monaten und Jahren werden die gesellschaftlichen Krisen sich weiter zuspitzen: höchste Zeit, die Perspektive der Selbstorganisation auszuprobieren, anstatt zu resignieren oder sich weiter illusionären Hoffnungen in Wahlen hinzugeben!

Fußnoten

  1. www.tagesschau.de/inland/fernzuege-vers… ↩︎
  2. www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschl… Wird laufend aktualisiert, Stand 29.12.2024. ↩︎
  3. library.fes.de/pdf-files/pbud/20287-202… ↩︎
  4. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/11/PD24_438_811.html#:~:text=Bruttoinlandsprodukt%20(BIP)%2C%203.&text=Quartal%202024%20%E2%80%93%20preis%2D%2C%20saison,vom%2030.%20Oktober%202024%20berichtet. ↩︎
  5. www.bmwk.de/Redaktion/DE/Artikel/Wirtsc…. ↩︎
  6. Im Einzelnen z.B.: https://www.statistischebibliothek.de/mir/servlets/MCRFileNodeServlet/DEHeft_derivate_00027497/2180140168004_Mai2016.pdf;jsessionid=FC79BF8BCCB40F2C2A9D02C753A61396 ↩︎
  7. Allgemeiner Sprachgebrauch, die reale kapitalistische Wertschöpfung erfolgt durch die Arbeitskraft. ↩︎
  8. www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Bevoelk… ↩︎
  9. de.statista.com/statistik/daten/studie/… ↩︎
  10. www.nature.com/articles/s41598-024-70909-2 ↩︎
  11. www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/F… ↩︎
  12. www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-hohe… ↩︎
  13. https://www.quarks.de/gesundheit/warum-schichtarbeit-dich-krank-macht/ ↩︎
  14. www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschl… ↩︎
  15. Für Deutschland und nicht für die Ukraine, wie Correctiv dankenswerterweise klarstellt: https://correctiv.org/faktencheck/2025/01/06/wir-muessen-mehr-arbeiten-aussage-von-friedrich-merz-faelschlich-auf-ukraine-bezogen/ ↩︎
  16. https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61711/arbeitszeit-und-arbeitsvolumen/ ↩︎
  17. Zur historischen Arbeitszeit: groups.csail.mit.edu/mac/users/rauch/wo… ↩︎
  18. www.jungewelt.de/artikel/490443.ein-erf… ↩︎
  19. Sebastian Dullien u.a.: Herausforderungen für die Schuldenbremse. Investitionsbedarfe in der Infrastruktur und für die Transformation, IW-Policy Paper, Nr. 2, Köln 2024. ↩︎
  20. https://www.svr-migration.de/publikationen/jahresgutachten/2024/ ↩︎
  21. mediendienst-integration.de/fileadmin/D… ↩︎
  22. www.spiegel.de/politik/deutschland/olaf… ↩︎
  23. www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2… ↩︎
  24. www.morgenpost.de/politik/article407927… ↩︎
  25. www.fdp.de/das-wahlprogramm-der-freien-… ↩︎
  26. www.nd-aktuell.de/artikel/1188321.nuetz… ↩︎
  27. https://www.weforum.org/stories/2020/06/business-for-nature-protect-loss-recovery-climate-environment-risk-collective-action-post-covid-world/ ↩︎
  28. www.oxfam.org/en/press-releases/richest… ↩︎
  29. www.mdr.de/wissen/umwelt-klima/wer-beza… ↩︎
  30. www.afd.de/wp-content/uploads/2024/11/L… ↩︎
  31. www.oxfam.de/presse/pressemitteilungen/… & https://openknowledge.worldbank.org/entities/publication/2be91c76-d023-5809-9c94-d41b71c25635 ↩︎
  32. www.deutschlandfunk.de/lithium-abbau-in… ↩︎
  33. Ulrike Hermann: Das Ende des Kapitalismus, Köln 2022, S. 163-183. ↩︎
  34. www.rnd.de/politik/opferzahlen-ukraine-… ↩︎
  35. news.gallup.com/poll/653495/half-ukrain… ↩︎
  36. www.welt.de/politik/ausland/article2539… ↩︎
  37. www.fr.de/politik/ukrainische-elite-bri… ↩︎
  38. www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/u… ↩︎
  39. www.foreignaffairs.com/russia/putins-po… ↩︎
  40. www.zdf.de/politik/maybrit-illner/trump… ↩︎
  41. www.tagesschau.de/ausland/europa/ukrain… ↩︎
  42. „Und wenn europäische oder amerikanische Beamte eine Idee bezüglich des Mobilmachungsalters haben, möchte ich unsere Partner bitten, ihre Arbeit zu tun, und wir werden unsere tun“, strana.news/news/475978-zelenskij-ne-bu… ↩︎
  43. www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschl… ↩︎
  44. www.derwesten.de/politik/weidel-afd-bun… ↩︎