Warum wir auf Gegenmacht bauen: Kommentar zu einem Wahlaufruf und Dokumentation eines kürzlich gehaltenen Vortrags

Vor Kurzem veröffentlichte das Portal Antifa.nrw den Aufruf “Warum wir wählen werden”, einen Apell, vor allem aus klimapolitischen Gründen bei der diesjährigen Bundestagswahl die LINKE zu wählen. Wenig überraschend – wir als Anarchakommunist*innen haben daran etwas auszusetzen. Wir haben den Aufruf bereits kurz auf Twitter kritisiert, wollen aber hier noch einmal etwas ausführlicher darauf eingehen.

Was ist falsch am Aufruf, die LINKE zu wählen?

Worum es uns nicht geht: Wir haben nichts gegen konkrete Verbesserungen im Bestehenden, sofern sie auch eine Verbesserung der Kampfbedingungen der lohnabhängigen Klasse bedeuten – hierzu legen wir euch unsere Kollektive Einmischung Nr. 5, “Reformen statt Reformismus!” ans Herz. Auch möchten wir dem Moralismus des Aufrufes – “Diese Bundestagswahl ist in einer Art und Weise eine entscheidende, wie sie das bisher noch nie war. Wenn wir in den kommenden Jahrzehnten noch einen Planeten haben wollen, welcher ein menschliches Leben ermöglicht, sind zeitnah deutliche einschneidende Maßnahmen notwendig.” – keinen Anti-Wahl-Moralismus entgegensetzen – wir haben hierzu den Text “Geh wählen! – oder lass es bleiben: Über die Wahlenthaltung” von einem Genossen der „Black Rose Anarchist Federation“ übersetzt und veröffentlicht.

Die LINKE ist ein Partei, die mitregieren will, und dafür bereit, ist “Kompromisse” einzugehen. Was das heißt, können wir an den Bundesländern sehen, in denen die LINKE mit in der Regierung sitzt – Berlin, Brandenburg, Thüringen und Bremen schoben in den letzten Jahren jedes Jahr bis zu 2.000 Menschen ab. Ebenso hat die LINKE z.B. in Berlin die Privatisierung des staatlichen Immobilienunternehmens GSW mitverantwortet und damit selbst zu der fatalen Entwicklung am Berliner Wohnungsmarkt beigetragen, die sie heute beklagt. Das auch das linke Versprechen des Antimilitarismus im Zweifelsfall nicht viel Wert ist, erklärt Dietmar Bartsch, Co-Vorsitzender der Linksfraktion im Deutschen Bundestag, mit den Worten: „Nie wird die Situation entstehen, dass wir einen NATO-Austritt zur Bedingung eines rot-rot-grünen Bündnisses machen würden.” Die Liste ist lang. Warum sollte die LINKE, falls sie denn Juniorpartnerin in einer Regierungskoalition mit zwei neoliberalen Parteien wird, sich ausgerechnet beim Klimathema gerade machen?

Der Aufruf behauptet, nach der Wahl „können wir als außerparlamentarische politische Kraft unsere Positionen leichter an eine gestärkte Linkspartei herantragen” – Die Frage nach dem Verhältnis zwischen sozialen Bewegungen und linken Parteien ist alt, die Vorstellung, eine Partei könnte als parlamentarischer Arm einer sozialen Bewegung agieren, klingt verlockend. Die zunächst gemeinsame Geschichte von Anti-AKW-Bewegung und der Partei „Die Grünen“ bietet hier Anschauungsmaterial:

„Das Projekt einer WAA für Gorleben wurde nach dem Gorleben-Treck von Hunderttausenden nach Hannover 1979 vom konservativen CDU-Ministerpräsidenten Albrecht als für „politisch nicht durchsetzbar“ erklärt; das symbolisch bedeutsame AKW Wyhl, um das 1974/75 mit Bauplatzbesetzungen gekämpft wurde, erhielt 1983 durch den CDU-Ministerpräsidenten Späth seinen späten Baustopp. Und war denn das von Merkel beschlossene Atom-Ausstiegsgesetz vom Juni 2011, mit sofortiger Stilllegung von 8 AKWs und Stilllegung der 16 weiter laufenden AKWs bis Ende 2022, nicht weitaus radikaler als der erste „Atomkonsens“ im Jahre 2000 der ach so fortschrittlichen Schröder-Fischer-Regierung?” (siehe https://www.graswurzel.net/gwr/2021/06/fridays-for-future-sackgasse-klimaliste/) Es wird deutlich, dass die mittlerweile 30jährige Präsenz der Grünen im Bundestag dem Anliegen der Anti-AKW-Bewegung herzlich wenig genützt hat.

Die Klimabewegung hat in den letzten Jahren gerade durch ihre außerparlamentarischen Mobilisierungen maßgeblich dazu beigetragen, das Problem der Erderwärmung stärker ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Sie hat damit die Politik unter Zugzwang gesetzt, sich diesem Thema anzunehmen. Nun besteht die Gefahr, dass sich die Klimaaktivist*innen aufgrund falscher Hoffnungen an die Grünen oder auch die LINKE binden, passiv darauf warten, dass das Parlament die Probleme löst oder in Gehorsam gegenüber einer Regierungspartei verfallen. Teile von „Fridays for Future“ machen es mit ihrem Slogan von der „Klimawahl“ und mehr oder weniger offenen Wahlempfehlungen für die Grünen bereits vor.

Und was sollen wir jetzt machen?

Wir sehen ein paar Aufgaben, die dringender sind als Wahlaufrufe zu schreiben oder zu kritisieren:

  • Die historische Erfahrung, die soziale Bewegungen in den letzten Jahrzehnten gemacht haben, in die zum Teil recht junge Klimabewegung hineinzutragen und unsere Kritik an Kapitalismus, Staat, Patriarchat und vielem anderen zu diskutieren — mit Selbstbewusstsein und auf Augenhöhe.
  • Genauso engagiert die Erfahrung, welche Aktionsformen Druck aufbauen und welche Machtmittel eine breite soziale Bewegung hat, in die Klimabewegung hineintragen.
  • Mehr werden, aktiv werden. Menschen aus dem Ruhrgebiet laden wir zum nächsten offenen Klimatreffen in Dortmund (17.10.2021, 16 Uhr, Black Pigeon Dortmund, https://offenesklimatreffendortmund.noblogs.org/termine/).

Kürzlich hat ein Mitglied der Plattform Ruhr auf Einladung der Anarchistischen Gruppe Dortmund einen Vortrag gehalten, der unsere Kritik am Parlamentarismus noch etwas genauer ausführt. Wir dokumentieren diesen im Folgenden:

Vortrag: Was fangen wir mit den Wahlen an? Eine anarchistische Perspektive auf den Parlamentarismus

Wahlplakat der Grünen zur Bundestagswahl 2021 „Deine Stimme kann den Mietenwahnsinn stoppen. Deine Stimme zählt. Diesmal Grün.“

Ich möchte meine Überlegungen mit einer bekannten Karikatur von Peter Leger beginnen; sie trägt den Titel „Die Macht des Wählers“. Auf ihr ist der „deutsche Michel“ mit seiner charakteristischen Zipfelmütze zu sehen, der zur Wahlurne für die Bundestagswahl schreitet. An den Tagen vor der Wahl ist er klein, niedergedrückt und missmutig, am Wahlsonntag dagegen wächst er zu riesenhafter Größe heran und wirft erhobenen Hauptes und mit stolzem Gesichtsausdruck seinen Stimmzettel in die Urne. Schon am Tag nach der Wahl schrumpft er wieder auf seine ursprünglich Größe zurück und schlurft mit hängenden Schultern davon.

Die Zeichnung thematisiert den Widerspruch zwischen dem Versprechen der „Volkssouveränität“, also der politischen Macht, die uns als Wähler*innen angeblich zukommen soll, und unseren Alltagserfahrungen. Ein besonders eindrückliches Beispiel für dieses Versprechen liefert eine Plakatserie der Grünen zur diesjährigen Bundestagswahl: „Deine Stimme kann den Mietenwahnsinn stoppen.“, „Deine Stimme kann die Ausgrenzung ausgrenzen.“, „Deine Stimme kann die Klimakrise aufhalten.“ – Die gesellschaftliche Gestaltungsmacht, die jede*r Einzelne mit dem Stimmzettel in den Händen hält, scheint keine Grenzen zu kennen. An den 364 anderen Tagen des Jahres ist davon allerdings wenig zu spüren: Bei Konflikten mit Vermieter*innen und Arbeitgeber*innen, bei Begegnungen mit alltäglichem Sexismus und Rassismus oder gar angesichts des Problems der Erderwärmung erfahren wir uns als Individuen meist als ziemlich ohnmächtig.

Diese Erfahrung ist allgemein verbreitet: Die oben erwähnte Karikatur stammt nicht aus einem linksradikalen Kontext, sie wird häufig in offiziellen Materialien zur politischen Bildung verwendet und wahrscheinlich von den meisten Menschen unmittelbar verstanden. Ich spreche also keineswegs ein Geheimnis aus, wenn ich auf die Diskrepanz zwischen dem Ideal der „Volkssouveränität“ und unserer realen Machtlosigkeit hinweise. Die Frage ist nur: Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären? In meinem Vortrag möchte ich versuchen, diese Frage zu beantworten. Ich möchte dabei zunächst auf einige gängige Erklärungsansätze eingehen, die zwar richtige Aspekte aufweisen, letztlich aber doch zu kurz greifen. Schlussendlich möchte ich in sehr knapper Form einen möglichen Ausweg aus der gegenwärtigen Misere skizzieren.

Selbstsucht der Politikerinnen?

Eine landläufige Erklärung für unseren mangelnden politischen Einfluss ist der schlechte Charakter unseres politischen Personals: Die meisten Politiker*innen kümmerten sich nicht um das Wohl der Bevölkerung, sondern strebten nur nach persönlicher Bereicherung und nach dem Erhalt ihrer Macht. Dieser Befund ist in vielen Fällen sicherlich richtig: Wir brauchen nur auf die zahlreichen Korruptionsskandale der letzten Zeit zu sehen, um uns klar zu machen, dass große Teile der politischen Klasse tatsächlich wenig Skrupel haben, wenn es darum geht, ihre öffentlichen Ämter zur Aufbesserung ihrer privaten Finanzen auszunutzen.

Aus der Kritik an der mangelnden Moral der herrschenden Politiker*innen ergibt sich folgerichtig eine bestimmte Idee, wie diesem Missstand abgeholfen werden könnte: Wir müssten endlich integere Repräsentant*innen wählen, die den Auftrag, den wir ihnen durch unsere Stimmen gegeben haben, auch wirklich ernst nehmen. Das war seit jeher der Anspruch der Protest- und Oppositionsparteien: Angefangen von der historischen Sozialdemokratie über die Grünen, die Linken bis hin zur schon wieder fast vergessenen Piratenpartei – stets lautete das Versprechen, die bisherigen, korrupten Eliten durch echte Volkvertreter*innen zu ersetzen, die im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung handeln. Jedoch: So oft diese Hoffnung wieder aufgewärmt wurde, so oft wurde sie auch enttäuscht! Kaum waren die ehemaligen Rebell*innen ins Parlament oder gar in die Regierung eingezogen, so begannen sie den etablierten Parteien zu gleichen wie ein Ei dem anderen und von einer grundsätzlichen Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse war keine Rede mehr. Hierzu wird als Erklärung von herrschaftskritischen Menschen häufig ein Schlagwort angeboten: „Macht korrumpiert.“ – Soll heißen, wer einmal von den Vorzügen einer Führungsposition gekostet hat, möchte diese nicht mehr missen und setzt alles daran, sich auf diesem Posten zu halten. Der Zusammenhang ist nicht unplausibel, aber auch hier reicht die rein individuell-psychologische Erklärung nicht aus – dazu ist das Phänomen der Entfremdung ehemaliger „Volkstribunen“ von ihrer Wählerbasis zu allgemein, zu systematisch. Wir müssen also nach gesellschaftlichen Mechanismen Ausschau halten, die auf Politiker*innen einwirken und deren Handeln beeinflussen.

Einfluss des Lobbyismus?

Einer dieser Mechanismen ist der Lobbyismus. Einige Leute sind überzeugt, dass es der Einfluss von Lobbygruppen sei, der dafür sorge, dass die Politik nicht wirklich den Interesse der Bevölkerung dient. Ein prominenter Vertreter dieser These ist der Dortmunder Marco Bülow, Autor des Buchs „Lobbyland“. Er saß seit 2002 für die SPD im Bundestag, hat sich aber mit dieser überworfen und kandidiert nun für die Satirepartei „Die PARTEI“.

Eine Lobby ist eine Interessenvertretung einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe gegenüber der Politik. Der Begriff kommt aus dem Englischen und bezeichnet ursprünglich die Vorhalle des Parlaments, in der traditionell die Vertreter verschiedenster Interessengruppen auf eine Gelegenheit warteten, sich an die Abgeordneten heranzumachen und ihnen die Wünsche und Vorschläge ihrer Auftraggeber*innen zu unterbreiten. Heutzutage gehen Lobbyist*innen in der Regel professioneller vor, das Prinzip bleibt aber das gleiche. Klar ist dabei: Wer Geld und Macht hat, verfügt auch über mehr Möglichkeiten, Politiker*innen zu beeinflussen. So könnte etwa, um ein Beispiel von oben wieder aufzugreifen, ein Vertreter des Immobilienkonzerns Vonovia eine*n Abgeordnete*n erst einmal zum Essen in einem teuren Luxusrestaurant einladen, um dann einen gut bezahlten Beraterposten oder eine üppige Spende für seine Partei anzubieten. Solche Möglichkeiten haben wir Normalbüger*innen natürlich nicht. Und so ist es wenig verwunderlich, dass „deine Stimme“ eben nicht „den Mietenwahnsinn stoppen“ wird, weil auch Politiker*innen der Grünen den Einflüsterungen des Lobbyismus nicht widerstehen können.

Als Lösungsansatz für dieses Problem schlagen Marco Bülow und der von ihm unterstützte Verein „Plattform.Pro“ unter anderem einen „Politik-Kodex“ vor: Durch strenge Regeln soll maximale Transparenz bezüglich der Lobbytreffen, Spenden und Nebentätigkeiten von Politiker*innen hergestellt werden. Das Ideal ist die „gläserne Abgeordnete“, der unter den wachsamen Augen der Öffentlichkeit gar nichts anderes übrig bleibt, als ehrliche Politik für das Allgemeinwohl zu machen.

Im Grunde wäre es schön, wenn diese Vision tatsächlich einmal verwirklicht werden würde – dann hätten wir eine Probe auf’s Exempel. Mein Verdacht ist jedoch: Auch vollständig „durchsichtige“ Politiker*innen würden nicht grundsätzlich anders handeln als die herkömmlichen Volksvertreter*innen. Um diese Annahme zu erläutern, möchte ich auf den ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder eingehen, der Anfang der 2000er Jahre die berüchtigten Hartz-Reformen durchdrückte. In einem Interview appellierte er damals an die Bevölkerung „Einsicht in die Notwendigkeit“ von sozialen Einschnitten zu zeigen (siehe https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/sozialstaatsdebatte-schroeder-prangert-mitnahme-mentalitaet-an-1179310.html). Schröder trat hier als Zyniker auf, der die Menschen dazu aufforderte, die Notwendigkeit ihrer eigenen Verarmung einzusehen. Aber in seinem Zynismus liegt auch eine wichtige Wahrheit: Kapitalistische Wirtschaft und Weltmarkt vorausgesetzt, gibt es tatsächlich objektive Probleme, mit denen staatliches Handeln umgehen muss. Und die Lösung dieser Probleme erfordert mitunter die Umsetzung gewisser „Notwendigkeiten“ – unabhängig vom Charakter und den persönlichen Vorlieben des jeweiligen Herrschaftspersonals. Um die Jahrtausendwende galt Deutschland als „kranker Mann Europas“; die Unternehmensgewinne stagnierten, die Arbeitslosigkeit stieg, die Staatsverschuldung drohte auszuufern. Für diese Situation musste die Politik eine Lösung finden, wenn sie den deutschen Staat nicht in ernsthafte Schwierigkeiten bringen und damit ihre eigene Handlungsfähigkeit gefährden wollte. Gerhard Schröder brauchte keine Geheimtreffen mit irgendwelchen Lobbyvertretern, um das zu erkennen – ein Blick auf die ökonomischen Rahmendaten reichte vollkommen aus. (Was nicht ausschließt, dass es solche Geheimtreffen dennoch gegeben haben mag!)

Auch der Lobbyismus ist daher keine hinreichende Erklärung für unsere politische Einflusslosigkeit – wenn auch das Aufdecken konkreter Verflechtungen politischer und ökonomischer Akteur*innen durchaus hilfreich sein kann, um die Funktionsweise der gegenwärtigen Herrschaft zu verstehen.

Entmachtung der Nationalstaaten?

Ein weiterer Erklärungsversuch sieht das Problem in der Entmachtung der Nationalstaaten und ihrer Parlamente durch international agierende Konzerne und überstaatliche Organisationen wie die EU, die Welthandelsorganisation (WTO) oder auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Dies ist die Perspektive der sogenannten Globalisierungskritiker*innen, die es sowohl in einer linken, als auch in einer rechten Variante gibt. Den gesellschaftlichen Hintergrund dieser Kritik stellt die weltweite neoliberale Politik der letzten 40 Jahre dar. Tatsächlich ist in diesem Zeitraum der Einfluss globaler Konzerne stark angewachsen: So hat z.B. Amazon 2020 einen weltweiten Jahresumsatz von 386 Mrd. US-Dollar gemacht; das ist mehr als das Bruttoinlandsprodukt von Ländern wie Norwegen oder auch Ägypten (siehe https://www.laenderdaten.info/groesste-volkswirtschaften.php). Es liegt auf der Hand, dass die Konzerne dieses ökonomische Gewicht auch in politische Macht zu übersetzen wissen. Zugleich hat fast überall auf der Welt seit 1980 eine massive Umverteilung von unten nach oben stattgefunden. (hierzu https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/einkommensverteilung-wo-die-ungleichheit-am-groessten-ist-1.3791583) Die Globalisierungsgegner*innen haben also durchaus recht, wenn sie beklagen, dass die Politik der letzten Jahrzehnte die Interessen der Großkonzerne und nicht die der breiten Masse der Bevölkerung bediente.

Der Fehler der Globalisierungskritik besteht jedoch darin, dass sie die Lösung – explizit oder implizit – in der Vergangenheit sucht. Sie möchte zurück zu einem stärker nationalstaatlich regulierten Kapitalismus, wie er in den westlichen Ländern in den 1960er und 1970er Jahren vorherrschte. Genau diese Zeit war allerdings auch der Höhepunkt einer weltweiten Revolte von Arbeiter*innen, Student*innen und unterdrückten Minderheiten, welche die herrschenden Mächte mit einer Radikalität herausforderten, die in vielen Ländern bis zum bewaffneten Kampf reichte. Ohne allzu sehr ins Detail zu gehen, kann jedenfalls festgehalten werden: SO in Ordnung wird die Welt damals nicht gewesen sein! Gründe zum Aufbegehren gab es auch damals in der Tat genug und sie waren teilweise die gleichen, die auch heute Menschen auf die Straße treiben: autoritäre Bevormundung in Uni und Fabrik, schlechte und teure Wohnungen, patriarchale Familienverhältnisse, rassistische Diskriminierung, Krieg in Vietnam… Es lässt sich also festhalten: Auch im nationalstaatlich regulierten Kapitalismus wurden die Wünsche und Bedürfnisse der Masse der Bevölkerung nicht erfüllt, die Souveränität lag auch damals nicht beim Volk. Eine Rückkehr zu vermeintlich goldenen Zeiten der Vergangenheit ist daher nicht wünschenswert – und wahrscheinlich auch gar nicht möglich.

Bürgerliche Gesellschaft

Die gemeinsame Schwäche der bisherigen Erklärungsansätze besteht darin, dass sie den Fehler stets nur im politischen System suchen, während sie die Gesellschaft, die von diesem politischen System beherrscht und organisiert wird, höchstens oberflächlich betrachten. Schauen wir uns also dieses Gemeinwesen einmal genauer an: Zunächst fällt auf, dass es von unversöhnlichen Widersprüchen zerrissen ist: Da sind z.B. die Vermieter*innen, die aus ihren Wohnungen einen möglichst hohen Mietzins herausschlagen wollen und auf der anderen Seite die Mieter*innen, die natürlich am liebsten umsonst wohnen würden. Dann gibt es das Interesse der Unternehmen, ihre Beschäftigen möglichst lange und zu möglichst geringem Lohn arbeiten zu lassen, während die Lohnabhängigen so viel wie möglich verdienen und dabei möglichst wenig arbeiten möchten. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Es ist offensichtlich, dass bei derart gegensätzlichen Interessenlagen die Politik gar nicht die Interessen „der Bevölkerung“ insgesamt vertreten kann.

Der Grund für diese widerstrebenden Interessen besteht darin, dass unsere Gesellschaft, all ihren Wandlungen zum Trotz, nach wie vor eine bürgerliche Klassengesellschaft ist. Zwei Hauptklassen stehen sich in ihr gegenüber: Auf der einen Seite die Eigentümer*innen der Produktionsmittel und auf der anderen die große Masse der Lohnabhängigen, die keine Produktionsmittel besitzen. In dieser gesellschaftlichen Spaltung liegt auch der tiefere Grund für unsere Machtlosigkeit im Alltag: Wir müssen unsere Arbeitskraft verkaufen und für fremden Profit schuften; wir sind also der schöpferischen Kraft, die in unserer Arbeit steckt, beraubt. Die Welt, die wir tagtäglich aufbauen, gehört uns nicht. Unserer Machtlosigkeit entspricht der Macht, die am anderen Pol der Gesellschaft konzentriert ist – bei denen, die unsere Arbeit kontrollieren.

Bürgerlicher Staat

Damit eine solche Gesellschaft überhaupt existieren kann, braucht sie den bürgerlichen Staat als übergeordnete Instanz, der die Rahmenbedingungen für die Konkurrenz setzt und dafür sorgt, dass diese nicht in ein ungezügeltes Hauen und Stechen ausartet. Dazu gehört auch, dass der Staat durch bestimmte Gesetze dafür sorgt, dass die Masse der Arbeitenden zumindest nicht verhungert oder sich zu Tode schuftet – aber selbst das musste ihm durch harte Kämpfe abgerungen werden. Vor allem aber muss der Staat dafür sorgen, dass die auf seinem Territorium angesiedelten Unternehmen möglichst günstige Bedingungen zur Kapitalvermehrung vorfinden.

Diese Funktion gibt den Politiker*innen ihren Handlungsrahmen vor – denn das Funktionieren der kapitalistischen Ökonomie ist auch ihre Geschäftsgrundlage. Ohne marktwirtschaftlich erfolgreiche Unternehmen keine Steuereinnahmen und ohne Steuereinnahmen keine funktionierenden Behörden, keine Schulen, keine Infrastrukturprojekte usw. Nach dieser simplen Logik muss sich richten, wer einen bürgerlichen Staat lenken will; auch linke Parteien bilden davon keine Ausnahme. Wenn Politiker*innen gegen unsere Interessen handeln, indem sie die Konzerne umsorgen, machen sie ihren Job also nicht schlecht, sondern gut! Unsere Machtlosigkeit ist kein Versagen der Demokratie, sondern gerade ihr Funktionsprinzip.

Was tun? Gegenmacht von unten

Was aber können wir tun, um Einfluss auf unser Leben zurückzugewinnen und dem katastrophalen Kurs, dem unsere Gesellschaft folgt, etwas entgegenzusetzen? – Der Schlüssel scheint mir genau dort zu liegen, wo auch der Grund für unsere aktuelle Machtlosigkeit liegt: Wir verkaufen unsere Arbeitskraft – das heißt doch auch: Wir halten diese Welt am laufen! Niemand anderes als wir, die lohnabhängige Klasse, haben die Städte erbaut, die wir bewohnen. Wir stellen auch all die Güter her, die sich in den Regalen der Supermärkte stapeln, wir fahren die U-Bahnen, pflegen die Kranken, erziehen die Kinder, etc. pp. Damit haben wir aber potentiell eine riesige Macht. „Wenn dein starker Arm es will, stehen alle Räder still!“ hieß ein Slogan der alten Arbeiter*innenbewegung. Das gilt prinzipiell auch heute. Nur sind wir uns dessen im Alltag meist nicht bewusst, weil wir so hoffnungslos vereinzelt sind.

Die politische Wahl wiederum ist einer der Mechanismen (vielleicht nicht der relevanteste), der diese Vereinzelung aufrecht erhält. In der Wahlkabine bin ich allein, es wir mir suggeriert, dass ich mit meiner individuellen Stimme etwas bewirken kann. Wirkliche Veränderung kann dagegen nur durch kollektives Handeln herbeigeführt werden. Im Kampf gegen hohe Mieten z.B. sollten wir nicht auf die Wahlen hoffen, sondern uns mit anderen Mieter*innen in unserem Haus und unserer Nachbarschaft zusammentun und uns gemeinsam und selbstorganisiert zur Wehr setzen. Ebenso hilft gegen Schikanen und schlechte Bezahlung im Betrieb letztlich nur die kollektive Aktion der Kolleg*innen, die ihre Interessen selbst in die Hand nehmen. Es geht darum, Gegenmacht von unten aufzubauen, um dem Staat und den Konzerne konkrete Verbesserungen für die lohnabhängige Klasse abzuringen. Das letztendliche Ziel muss aber die Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und des Staates zugunsten einer Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung sein.

Wenn ich mich gegen das Wählen als politische Strategie ausspreche, so geht es mir aber nicht darum, dem offiziellen Moralismus der Wahlpropaganda einen Anti-Wahl-Moralismus entgegenzusetzen: Ob ihr nun wählen geht oder nicht, ist letztlich egal, als privates Hobby ist gegen einen sonntäglichen Spaziergang zum Wahllokal wenig einzuwenden. Ich möchte daher mit einem Zitat der amerikanischen Organisation „Black Rose Anarchist Federation“ enden, die kürzlich zur Frage der Wahlenthaltung ein lesenswertes Statement veröffentlicht hat: „Geh wählen oder lass es bleiben, aber gib dem Aufbau von Gegenmacht den Vorrang.“

Alfred Masur, im September 2021

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